Der Begriff wurde im Jahr 2000 im Kontext einer Tagung zur Lifestyle-Medizin vom Giessener Psychologen Burkhard Brosig geprägt. Er lehnt sich an den Roman «Das Bildnis des Dorian Gray» von Oscar Wilde an, dessen Schlüsselfigur Dorian Gray ist, und nimmt ein zentrales Motiv des Werkes auf: die Unfähigkeit zu altern und damit auch seelisch zu reifen. In Wildes Roman verkauft Dorian Gray symbolisch seine Seele, um äusserlich ewig jung zu bleiben, während ein Porträt von ihm die Zeichen des Alterns und der moralischen Verfehlungen trägt.
Brosig beschreibt eine psychodynamische Wechselwirkung zwischen narzisstischen Tendenzen, die in einem starken Streben nach altersloser Schönheit und Perfektion münden, und psychosexuellen Entwicklungsproblemen, die durch die Vermeidung von seelischer Reife und innerer Weiterentwicklung gekennzeichnet sind. Diese psychodynamischen Prozesse werden oft durch den exzessiven Gebrauch von Lifestyle-Medizin-Angeboten zur Aufrechterhaltung eines jugendlichen Erscheinungsbildes begleitet. Dies können medizinische Maßnahmen sein, wie der Einsatz von Haarwuchsmitteln, Potenzmitteln, Antidepressiva zur Stimmungsmanipulation oder kosmetische Eingriffe wie plastische Chirurgie oder dermatologische Behandlungen.
Ein wesentliches Kriterium für die Diagnose des Dorian-Gray-Syndroms ist das Vorhandensein einer Dysmorphophobie, also einer verzerrten Wahrnehmung des eigenen Körpers. Betroffene haben eine wahnhafte Überzeugung, von einem körperlichen Defekt betroffen zu sein, der oft nur geringfügig oder gar nicht vorhanden ist. Dies führt zu einer übermässigen Beschäftigung mit dem eigenen Aussehen und einem starken Drang, vermeintliche Makel zu korrigieren.
Die Unfähigkeit zur psychischen Reife äussert sich darin, dass die betroffenen Personen keine angemessenen Entwicklungsschritte in ihrer Persönlichkeit machen, wie es im Laufe des Lebens normalerweise der Fall ist. Stattdessen verharren sie in einem Zustand der psychosexuellen Stagnation und vermeiden jegliche Form der inneren Reifung, die sie ihrem realen Alter und ihrer Lebenssituation entsprechend weiterentwickeln würde.
Darüber hinaus ist die übermässige Inanspruchnahme von mindestens zwei Lifestyle-Angeboten der Medizin ein weiteres Diagnosekriterium. Dies könnte in der ständigen Nutzung von Anti-Aging-Produkten, häufigen kosmetischen Operationen oder der dauerhaften Einnahme von Medikamenten zur Manipulation des psychischen Zustandes zum Ausdruck kommen.
Klinisch zeigt sich das Dorian-Gray-Syndrom oft in einer latenten Depression, die mit einer erhöhten Suizidgefahr einhergeht. Die Massnahmen der Lifestyle-Medizin fungieren dabei als psychische Abwehrmechanismen, die das Durchbrechen tiefer liegender depressiver Zustände verhindern sollen. Wenn diese psychodynamischen Aspekte nicht ausreichend berücksichtigt werden, kann sich eine pathologisch narzisstische Einstellung entwickeln, die letztlich in selbstschädigendem Verhalten mündet.
Brosig schätzt, dass etwa 2 bis 3 Prozent der Bevölkerung an diesem Syndrom leiden, wobei diese Zahl aufgrund der gesellschaftlichen Tendenzen zu einer steigenden Fokussierung auf Äusserlichkeiten und Jugendlichkeit in Zukunft möglicherweise noch zunehmen könnte.
Das Dorian-Gray-Syndrom wirft grundlegende Fragen zur modernen Gesellschaft und ihrer Fixierung auf Jugend und Schönheit auf. Es stellt die tiefgreifenden psychologischen und sozialen Auswirkungen einer Kultur in den Vordergrund, die das Altern ablehnt und ewige Jugend idealisiert. In einer solchen Umgebung wird die natürliche und unvermeidbare menschliche Entwicklung zur Quelle von Angst und pathologischen Verhaltensweisen.