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Generalisierte Angststörungen: Helfen Apps den Betroffenen bei der Bewältigung?

Es gibt Hinweise auf positive Effekte im Vergleich zu keiner Behandlung. Zahlreiche Fragen bleiben aber noch offen. Letztlich auch die zum langfristigen wirtschaftlichen Nutzen sowohl für die einzelnen Patienten wie für die Investoren in die Technologie.

IQWIA / RA8.10.20245"

Im Auftrag des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im
Gesundheitswesen (IQWiG) hat ein interdisziplinäres Team von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern unter der Federführung der Gesundheit Österreich GmbH den Nutzen von digitalen Anwendungen (z.B. Apps) zur Behandlung einer generalisierten Angststörung bei Jugendlichen und Erwachsenen untersucht. Hierfür haben die Wissenschaftler die Ergebnisse von insgesamt 20 Studien ausgewertet, die die Anwendung von Apps bei einer generalisierten Angststörung untersuchten. Ihr Fazit: Im Vergleich zu keiner Behandlung können Personen mit generalisierter Angststörung von digitalen Anwendungen, die auf kognitiver Verhaltenstherapie beruhen, zumindest kurzfristig profitieren. Es fanden sich Hinweise auf positive Effekte bei Krankheitssymptomatik, Lebensqualität und Alltagsfunktionen.
Allerdings lässt die bisherige Studienlage keine Aussage zu langfristigen oder unerwünschten Effekten zu.

Die generalisierte Angststörung
ist eine verbreitete Angsterkrankung. Nach Schätzungen erhalten etwa fünf Prozent aller Menschen im Laufe des Lebens diese Diagnose. Frauen doppelt so häufig wie Männer. Meist beginnt eine Angststörung im mittleren Erwachsenenalter – manchmal aber auch schon im Kindes- oder erst im Seniorenalter. Kennzeichnend für die generalisierte Angststörung ist, dass die Betroffenen in ständiger, übermässiger Angst leben: Sie fürchten sich nicht nur bei realen Gefahren, sondern praktisch vor allem. Viele haben auch Angst vor der Angst selbst. Die Betroffenen leiden darunter, dass sie ihre Ängste und Sorgen nicht kontrollieren können und ihre Funktionsfähigkeit im beruflichen und privaten Alltag dadurch wesentlich beeinträchtigt sein kann.

Zur Behandlung der generalisierten Angststörung werden in der Regel psychologische und psychotherapeutische Behandlungen, vor allem die kognitive Verhaltenstherapie, empfohlen. Auch Entspannungs­verfahren wie autogenes Training oder progressive Muskelentspannung, Medikamente oder Selbsthilfegruppen können den Betroffenen helfen.

Digitale Anwendungen können die Betroffenen möglicherweise ebenfalls unterstützen. Häufig sind sie an die Prinzipien der kognitiven Verhaltenstherapie angelehnt und stellen zum Beispiel Texte und Videos bereit, mit denen Betroffene selbst arbeiten und üben können. Sie können auch weitere Funktionen enthalten, zum Beispiel ein Angsttagebuch oder automatische Erinnerungsfunktionen.

Der Bericht geht auf den Vorschlag eines Bürgers zurück. Dieser wies darauf hin, dass gesetzlich Krankenversicherte einen Anspruch auf die Versorgung mit speziellen Apps, sogenannte Digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA), haben. Er fragte, ob sicher nachgewiesen sei, dass Betroffene von der Anwendung von Apps zur Behandlung von Angststörungen grundsätzlich profitieren können. Vor diesem Hintergrund untersuchte das vom IQWiG beauftragte Expertenteam, ob sich Jugendliche ab 14 Jahren und Erwachsene mit einer generalisierten Angststörung von Apps einen Nutzen versprechen können – etwa, wenn nachgewiesen werden könnte, dass die Anwendung dazu führt, dass Betroffene weniger psychische und körperliche Beschwerden haben, ihren Alltag besser bewältigen können oder eine höhere Lebensqualität haben.

Hinweise auf positive Effekte, aber einige Fragen bleiben offen
Die Autorinnen und Autoren des Berichts identifizierten insgesamt 20 geeignete Studien, die die Anwendung von Apps bei einer generalisierten Angststörung untersuchen. Zwei dieser Studien untersuchen im DiGA-Verzeichnis gelistete Anwendungen. In 14 der ausgewerteten Studien werden Apps, deren Inhalte auf kognitiver Verhaltenstherapie basieren, mit keiner Behandlung bzw. Warteliste verglichen. Das Fazit aus diesen Studien: Es gibt Hinweise auf einen Nutzen der Apps in Bezug auf
  • die Krankheitssymptomatik (Daten aus 14 Studien),
  • die Lebensqualität (Daten aus 6 Studien) und
  • die Alltagsfunktionen (Daten aus 5 Studien).

Die Autorinnen und Autoren des Berichts halten fest, dass diese Ergebnisse insgesamt vorsichtig interpretiert werden sollten, da zum Beispiel bei der Durchführung der Studien methodische Standards nicht immer vollständig eingehalten wurden. Auch könnten sie nicht ausschliessen, dass ein Verzerrungspotenzial aufgrund nicht publizierter Studienergebnisse bestehe. Daneben fehlen auch Hinweise auf unerwünschte Ereignisse. Es bleibt daher unklar, welches Schadenspotenzial mit der Anwendung von Apps bei generalisierter Angststörung einhergeht. Auch betrug die Dauer der Studien in der Regel nur zwei oder drei Monate. Aussagen dazu, ob Betroffene von der Anwendung von Apps längerfristig, auch über den Interventionszeitraum hinaus, profitieren, sind daher nicht möglich. Darüber hinaus gab es keine Studien, die die Anwendung von Apps bei Jugendlichen im Alter ab 14 Jahren untersuchen.

Ob Apps besser oder schlechter sind als eine persönlich erbrachte kognitive Verhaltenstherapie, lässt sich aus den ausgewerteten Studien nicht erkennen. Hierfür wären Studien notwendig, die diese Interventionen direkt miteinander vergleichen. Solche Studien liegen aber aktuell nicht vor.

Die Kosten verschiedener Apps sind sehr unterschiedlich. In welchem Verhältnis Kosten und Nutzen stehen, liess sich nicht beurteilen. Zwei Apps – «velibra» und «Selfapy» – werdem vom deutschen Krankenkassen bezahlt. Es entstehen den kassen dadurch Kosten von rund 230 € für 90 Tage.

Quelle
IQWiG Medizinininformationsdienst

Kritische Sicht auf Mental-Health-Apps
Ein Bericht in der Wochenzeitung WOZ aus dem Jahr 2022 thematisiert den Aufstieg von Mental-Health-Apps und die Schwierigkeiten, deren Wirksamkeit nachzuweisen. Im Mittelpunkt steht Simone Biles, eine bekannte US-Sportlerin, die nach psychischen Problemen während der Olympischen Spiele 2021 in Tokio zur Fürsprecherin für psychische Gesundheit wurde. Biles ging daraufhin eine Partnerschaft mit der Mental-Health-App «Cerebral» ein, die schnell zu einem bedeutenden Akteur im milliardenschweren Markt für digitale Therapien aufgestiegen ist.

Wirtschaftlich betrachtet ist der Markt für Mental-Health-Apps stark im Wachstum begriffen, da die Nachfrage nach psychologischer Betreuung immens hoch ist. Während 2021 weltweit etwa 380 Milliarden US-Dollar für die Behandlung psychischer Erkrankungen ausgegeben wurden, bewegt sich der Umsatz von Mental-Health-Apps zwar noch in einem vergleichsweise bescheidenen Rahmen von etwa 500 Mio. bis 4 Mia. US-Dollar. Der Trend zeigt jedoch steil nach oben, was das Interesse von Investoren weckt. Apps wie «Cerebral» haben bereits Hunderte Millionen an Investitionskapital angezogen. Der wirtschaftliche Anreiz liegt hierbei weniger in der nachgewiesenen Wirksamkeit der Apps, sondern in der Aussicht auf enorme Profite.

Trotz der zunehmenden Beliebtheit dieser Apps gibt es ernste Bedenken hinsichtlich ihrer tatsächlichen Wirksamkeit. Viele der am Markt befindlichen Apps, wie etwa «BetterHelp» und «Cerebral», stützen ihre therapeutischen Versprechen auf unzureichende oder von den Unternehmen selbst finanzierte Studien, was zu Interessenkonflikten führt. Der Umgang mit Wirksamkeitsnachweisen ist oft fragwürdig, und es fehlt häufig an empirischen Belegen, die die behauptete Wirkung unterstützen. In der gesamten Branche wird somit ein unkritischer Umgang mit wissenschaftlichen Nachweisen beobachtet, was die Glaubwürdigkeit der Anwendungen infrage stellt.

In Deutschland gibt es bereits erste Ansätze, Mental-Health-Apps durch Krankenkassen zu zertifizieren und Kostenübernahmen zu ermöglichen. Doch auch hier sind die wissenschaftlichen Beweise oft dürftig. Einige der anerkannten Apps, wie etwa «Selfapy» oder «MindDoc», stützen sich auf minimale oder firmeneigene Studien. Dadurch wird deutlich, dass auch das deutsche Modell keine Garantie für die tatsächliche Wirksamkeit bietet.

Im Kern besteht ein fundamentaler Interessenkonflikt zwischen den kommerziellen Zielen der privaten Unternehmen und der therapeutischen Wirksamkeit der Apps. Während die Unternehmen von Investoren mit Kapital überflutet werden, um den nächsten digitalen Megahit zu schaffen, geht es bei den Apps nicht nur um Plattformen für Freizeitdienste, sondern um die psychische Gesundheit von Millionen von Menschen. Dies macht den Profitdruck in dieser Branche besonders problematisch.

Schon 2022 wurden deshalb in der WOZ daher strengere Regulierungen gefordert, die den digitalen Therapieansatz ähnlich behandeln sollten wie die klassische, analoge Psychotherapie. Es gibt keinen Grund, warum digitale Therapieangebote weniger kontrolliert werden sollten, wenn sie therapeutische Erfolge versprechen. Ohne entsprechende Überwachung besteht das Risiko, dass der boomende Markt für Mental-Health-Apps weiterhin profitorientierte Angebote fördert, die den Bedürfnissen der Patienten nicht gerecht werden.

Quelle
WOZ (Wochenzeitung) https://www.woz.ch/2240/digitale-therapien/digitale-therapien-dr-smartphone-will-dich-heilen/!KEJXB7M1K11D

Die Studie (Metaanalyse) der IQWiG ist mithin auch der Versuch, der Forderung nach Objektivierung des Nutzens von Mental-Health-Apps nicht nur für die Betroffenen, sondern auch für Investoren in die neue Technologie gerecht zu werden. Die IQWiG-Studie zeigt, dass das Thema noch lange nicht abgeschlossen ist.
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