Entwicklungspädiater Oskar Jenni: «Bei der Anwendung von Melatonin bei Kindern ist eine ärztliche Begleitung erforderlich»
Ein Interview von DOCINSIDE mit Prof. Dr. med. Oskar Jenni
Kann die exogene Zufuhr von Melatonin bei Kindern die Entwicklung des individuellen endogenen Melatonin-Haushalts oder des zirkadianen Rhythmus beeinträchtigen?
Zur langfristigen Anwendung liegen keine Daten vor, aber bei kurzfristiger Anwendung ist Melatonin in dieser Hinsicht relativ unbedenklich.
Kann die exogene Zufuhr von Melatonin bei gesunden Kindern die natürliche Schlafentwicklung beeinträchtigen?
Ja, denn bei 95 Prozent der Schlafprobleme handelt es sich um Verhaltensschlafstörungen im Rahmen der normalen Schlafentwicklung. Ausserdem spielt dabei auch die Interaktion zwischen Eltern und Kindern eine grosse Rolle. Und genau an diesen Punkten sollte die Behandlung ansetzen. Mit einem Schlafprotokoll und einer Rhythmisierung des Schlafs sowie mit der Ermittlung des Schlafbedarfs und der Unterstützung des Kindes beim selbständigen Einschlafen.
Mit der Gabe von Melatonin − oder auch eines anderen Schlafmittels − werden die Schlafprobleme lediglich kaschiert, jedoch nicht ursächlich behoben. Der Einsatz von Medikamenten wie Melatonin gilt deshalb als «Ultima Ratio» bei der Behandlung kindlicher Schlafstörungen. Sie werden nur bei hohem Leidensdruck angewendet, nachdem mit schlafhygienischen Massnahmen und Verhaltenstherapien keine Besserung erzielt werden konnte.
Wie beurteilen Sie die Anwendung frei verkäuflicher Melatonin-haltiger Produkte aus dem Internet?
Davon rate ich ab. Zum einen sollte Melatonin bei gesunden Kindern aus den bereits genannten Gründen nicht angewendet werden.
Zum anderen ist für eine gezielte Behandlung von Schlafstörungen mit Melatonin unbedingt eine ärztliche Begleitung erforderlich. Das für Kinder und Jugendliche zugelassene Medikament Slenyto induziert zunächst das Einschlafen. Des Weiteren setzt das retardierte Medikament den Wirkstoff über einen Zeitraum von einigen Stunden frei und imitiert so die natürliche Melatoninausschüttung mit dem Konzentrationspeak im Verlauf der Nacht. Um einen Behandlungserfolg zu erreichen, müssen Dosierung und Anwendungsweise dem individuellen Schlafproblem, dem individuellen zirkadianen Rhythmus und auch der individuell unterschiedlichen Melatoninausschüttung angepasst werden.
Aufgrund dieser komplexen Vorbedingungen ist die Wirkungsweise Melatonin-haltiger «Nahrungsergänzungsmittel» nicht ausreichend kontrollierbar und somit auch keine sinnvolle Behandlung der Schlafstörungen möglich.