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Aufbruchstimmung in der Adipositastherapie - Medikamente langsam gleich gut wie Bariatrie

Für die Behandlung der Adipositas als schwere chronische Erkrankung gibt es mittlerweile immer mehr pharmakologische Methoden, deren Effizienz die bariatrische Operation langsam einholt. Wie diese Entwicklung einzuschätzen ist, ordnete Prof. Luc Van Gaal, Klinik für Endokrinologie, Diabetologie und Metabolismus, Antwerp University Hospital (B), am Jahreskongress der European Association for the Study of Diabetes (EASD) ein.

Valérie Herzog8.12.2022
Bei der Betrachtung der Adipositas ist ein Paradigmenwechsel im Gang. Gemäss diesem soll sie nicht mehr als Resultat von Willensschwäche, sondern als eigenständige chronische Erkrankung angesehen werden, die behandelt werden muss. Die Erkrankung ist allgegenwärtig, nach Einschätzung der WHO sind 39 bis 49 Prozent der Weltbevölkerung übergewichtig bis adipös. Das hat fatale Folgen, denn mit steigendem Body-Mass-Index (BMI) sinkt die Lebenserwartung. Die Chance, ein Alter von 70 Jahren zu erreichen, betrage bei einem normalen BMI 80 Prozent, bei einem BMI von 34 bis 40 kg/m2 sinke sie auf 60 Prozent und bei einem BMI 40 bis 50 kg/m2 auf 50 Prozent, berichtet Van Gaal. Grund dafür sind die Auswirkungen der Erkrankung auf nahezu alle Organe.

Umgekehrt hat ein Gewichtsverlust gesundheitsfördernden Nutzen auf viele Organe. Bereits eine Verringerung des Körpergewichts um 5 bis 10 Prozent reduziere das Risiko für eine Entwicklung von Typ-2-Diabetes und bewirke Verbesserungen bei Lipidprofil, Blutdruck, Lebensqualität, der abnormalen Histologie bei nicht alkoholischer Fettleber, bei der obstruktiven Schlafapnoe und reduziere die kardiovaskuläre Mortalität, so Van Gaal.

Auf der Ebene von verschiedenen Geweben treten die Verbesserungen bei Triglyzeriden, Betazellfunktion, Insulinsensitivität sowie Fettgewebe mit zunehmendem Gewichtsvelust umso ausgeprägter auf (1). Je grösser also der Gewichtsverlust, desto besser.

Immer mehr Gewichtsreduktion möglich
Bis vor wenigen Jahren war mit Medikamenten und Lebensstilmodifikationen höchstens ein Gewichtsverlust von 5 bis 10 Prozent erreichbar, grössere Reduktionen waren nur durch bariatrische Operationen möglich. Mit der Entwicklung der GLP-1-Rezeptor-Agonisten (GLP-1-RA), insbesondere von Semaglutid, wurde jedoch ein Gewichtsverlust von bis zu 17 Prozent möglich, fast so viel wie mit einer Magenbandoperation (ca. 20%). Und mit dem vor der Zulassung stehenden Tirzepatid, einem GIP/GLP-1-RA, können sogar bis zu über 30 Prozent abgespeckt werden (2). Der erreichbare Gewichtsverlust nach einer bariatrischen Operation wie einem Schlauchmagen (30%) oder Magenbypass (35%) scheint von pharmakologischen Neuentwicklungen langsam eingeholt zu werden. Eine Reduktion von 1 kg Gewicht verringere den Bauchumfang um zirka 1 cm, etwa 30 Prozent des Fettmasseverlusts beträfen das tiefe viszerale Fett, erklärte Van Gaal.

Nebenwirkungen sind entscheidend
Was die Nebenwirkungen betrifft, konnten in kardiovaskulärer Hinsicht viele Gewichtssenker nicht überzeugen. Einige von ihnen (Sibutramin, Rimonabant, Lorcaserin) sind gar nicht mehr auf dem Markt. Mit Semaglutid ist eine kardiovaskuläre Outcome-Studie mit 17 500 übergewichtigen und adipösen Patienten im Gang (SELECT) (3), die Ende 2023 abgeschlossen sein sollte. Eine kürzlich durchgeführte Interimsanalyse gab gemäss Van Gaal den Ausschlag, die Studie wie vorgesehen weiterlaufen zu lassen, was darauf hindeutet, dass unter Semaglutid bei diesen Patienten kein kardiovaskulärer Schaden zu erwarten ist. Zu Tirzepatid wurde kürzlich eine kardiovaskuläre Outcome-Studie (SURMOUNT-MMO) gestartet, ihre Resultate werden Ende 2027 erwartet (4). Die gastrointestinalen Nebenwirkungen von Semaglutid und Tirzepatid scheinen ähnlich zu sein, wie eine Vergleichsstudie bei Patienten mit Ty-2-Diabetes ergeben hatte (5).

Die Reise geht weiter
Weil sich der Gewichtsverlust auf verschiedenste Organgewebe auswirkt, wird momentan in Studien der Effekt von Semaglutid sowie von Tirzepatid auf die nicht alkoholische Steatohepatitis untersucht. Dies vor dem Hintergrund, weil die nicht alkoholische Fettleber zu den häufigsten chronischen Lebererkrankungen gehört (6).

Bei übergewichtigen Kindern beginnt die kardiovaskuläre Mortalität bereits bei Erreichen des Erwachsenenalters von 30 Jahren zu steigen. Dies hauptsächlich aufgrund von Diabetes und Hypertonie (7). Deshalb sei es entscheidend, Adipositas bereits im Kindesalter effizient zu behandeln. Denn kranke Kinder werden kranke Erwachsene. Eine kürzlich abgeschlossene Studie mit Semaglutid bei übergewichtigen Teenagern erreichte eine Gewichtsreduktion von 16 Prozent (vs. + 0,6% unter Plazebo) (8).

Das Ziel darf dabei jedoch nicht aus den Augen verloren werden. Ein medikamentös unterstützter Gewichtsverlust soll mehr Patienten helfen, den Lebensstil zu verändern. Dabei solle mit einem möglichst grossen Effekt das Erreichte möglichst lange aufrechterhalten werden, so Van Gaal.

Klinische Fragen im Raum
Bei all diesen neuen Möglichkeiten ergeben sich folgende klinische Fragen: Wie nachhaltig sind die erreichten Reduktionen? Kann man das Medikament stoppen, wann soll man es stoppen, soll man es ausschleichen? Braucht es eine intermittierende Therapie? Soll bei älteren Patienten das Gewicht ebenfalls rigoros reduziert werden, auch wenn es scheint, dass im Fall eines kardiovaskulären Ereignisses und bei Krebs Übergewichtige einen Überlebensvorteil haben (obesity paradox)? Fragen wie diese sollten evidenzbasiert beantwortet werden.

Weitere Substanzen und Kombinationen, auch mit neuen Angriffszielen, befinden sich zurzeit in Entwicklung (9). Beste Aussichten also für eine Zukunft ohne chirurgische Adipositastherapie, so Van Gaal abschliessend.

Valérie Herzog

Quelle: «Overcoming challenges in obesity medicine». Jahreskongress der European Association for the Study of Diabetes (EASD), 19. bis 23. September 2022 in Stockholm.

Referenzen:
  1. Magkos F et al.: Effects of moderate and subsequent progressive weight loss on metabolic function and adipose tissue biology in humans with obesity. Cell Metab. 2016;23(4):591-601.
  2. Jastreboff AM et al.: Tirzepatide once weekly for the treatment of obesity. N Engl J Med. 2022;387(3):205-216.
  3. Ryan DH et al.: Semaglutide effects on cardiovascular outcomes in people with overweight or obesity (SELECT) rationale and design. Am Heart J. 2020;229:61-69.
  4. Frías JP et al.: Tirzepatide versus semaglutide once weekly in patients with type 2 diabetes. N Engl J Med. 2021;385(6):503-515.
  5. ClinicalTrials.gov: A study of tirzepatide (LY3298176) on the reduction on morbidity and mortality in adults with obesity (SURMOUNT-MMO). NCT05556512. Letzter Abruf: 11.11.22.
  6. Chalasani N et al.: The diagnosis and management of nonalcoholic fatty liver disease: Practice guidance from the American Association for the Study of Liver Diseases. Hepatology. 2018;67(1):328- 357.
  7. Twig G et al.: Body-Mass Index in 2,3 Million Adolescents and Cardiovascular Death in Adulthood. N Engl J Med. 2016;374(25):2430- 2440.
  8. Weghuber D et al.: Once-weekly semaglutide in adolescents with obesity. N Engl J Med. 2022;10.1056/NEJMoa2208601.
  9. Müller TD et al.: Anti-obesity drug discovery: advances and challenges. Nat Rev Drug Discov. 2022;21(3):201-223.

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