Massnahmen zur Einschränkung der Bewegungsfreiheit wie Bettgitter oder Gurtfixierungen werden in Pflegeheimen regelmässig eingesetzt. Solche freiheitsentziehenden Massnahmen (FEM) sind ethisch problematisch, weil sie meist bei Menschen mit demenziellen Erkrankungen eingesetzt werden, die dem Einsatz von FEM nicht selbst zustimmen können. Gerechtfertigt wird der Einsatz von FEM meist mit dem Schutz vor Stürzen und damit einhergehenden Verletzungen. Allerdings ist der Nutzen von FEM nur gering und steht zahlreichen negativen Folgen einer Einschränkung der Bewegungsfreiheit gegenüber. Diese kann sich ungünstig auf die körperliche Verfassung und Beweglichkeit auswirken und damit das Risiko für Stürze und letztlich den Pflegebedarf sogar erhöhen. Die Massnahmen können ausserdem Ängste oder aggressives Verhalten auslösen oder verstärken. Daher wird in Leitlinien und von Experten die Vermeidung von FEM in der Pflege empfohlen.
Fragestellung: Wie können FEM in Pflegeheimen vermieden werden?
Doch wie lässt sich das in der Praxis umsetzen? Ein erstmals 2011 veröffentlichter und nun auf den aktuellen Stand der Forschung gebrachter Cochrane Review analysiert die wissenschaftliche Evidenz zu Massnahmen und Strategien, die den Einsatz von FEM vermeiden oder reduzieren sollen.
Das Team von Autoren um Ralph Möhler vom Centre for Health and Society (chs) am Universitätsklinikum Düsseldorf konnte elf relevante Studien mit insgesamt 19 003 Teilnehmern identifizieren, die unterschiedliche Interventionen untersucht haben.
Die beste Evidenz fanden die Autoren in ihrer Auswertung für organisationsbezogene Interventionen, die in vier Studien mit 17 954 Teilnehmern untersucht wurden. Organisationsbezogene Interventionen zur Vermeidung von FEM bestehen aus verschiedenen einzelnen Massnahmen, die als Paket darauf abzielen, das Wissen sowie die Fähigkeiten und Strategien zur Vermeidung von FEM sowohl bei den Pflegern als auch den Leitungspersonen zu verbessern. In drei Studien wurden beispielsweise Multiplikatoren, also Mitarbeiter der Einrichtungen, geschult, individuelle Strategien zur Vermeidung von FEM für ihre Einrichtung zu entwickeln und umzusetzen. Die Leitungspersonen der Pflegeheime sollten die Vermeidung von FEM und die Multipikatoren unterstützen, z. B. durch Entlastung von anderen Tätigkeiten, damit die Multipikatoren ausreichend Zeit für ihre Aufgabe hatten.
Das wichtigste Ergebnisse:
- Solche Interventionen können die Zahl der Bewohner von Pflegeheimen, bei denen FEM angewendet wird, wahrscheinlich um 14 Prozent reduzieren.
- Die Zahl der Bewohner mit Stürzen oder schweren Verletzungen durch Stürze blieb dabei in den Studien insgesamt unverändert.
- Auch die Verordnung von sedierenden Medikamenten, die manchmal anstelle von FEM eingesetzt werden, erhöhte sich nicht.
- Ausserdem gab es keine Hinweise auf unerwünschte Wirkungen der Programme.
- Auf Basis der Studiendaten berechneten die Autoren, dass die Anzahl der Personen mit FEM bei der Umsetzung dieser Interventionen von 274 auf 236 je 1000 Personen reduziert werden kann.
Der Fokus auf Veränderungen auf Organisationsebene ist vermutlich wichtig, um einen nachhaltigen Nutzen bei der Vermeidung von FEM zu erreichen. Die Vertrauenswürdigkeit der Evidenz stufen die Autoren als recht gut ein (nach der international etablierten GRADE-Systematik «moderat», der zweithöchsten von insgesamt vier Stufen).
Widersprüchliche Ergebnisse zu Schulungsprogrammen
Sechs Studien untersuchten Schulungsprogramme, die das Wissen und die Haltungen bezüglich der Anwendung von FEM adressieren, aber nicht durch weitere Massnahmen ergänzt wurden. Die Ergebnisse dieser Studien waren widersprüchlich und einzelne Studien wiesen methodische Limitierungen auf. Daher lässt sich auf Basis der Studienergebnisse nicht sagen, ob solche Schulungsprogramme den Einsatz von FEM reduzieren können.
«Die Ergebnisse dieses Reviews zeigen, dass freiheitsentziehende Massnahmen in Pflegeheimen reduziert werden können, ohne dass die Zahl der Stürze oder sturzbedingten Verletzungen ansteigt. Auch gab es in den ausgewerteten Studien keine Hinweise, dass stattdessen häufiger sedierende Medikamente verordnet wurden», sagt Erstautor Ralph Möhler. «Allerdings reichen Schulungen des Personals alleine vermutlich nicht aus, eine entscheidende Rolle spielt die Unterstützung der Leitungskräfte.»
Weiterer Cochrane-Review: Vermeidung von FEM bei älteren Menschen im Krankenhaus
Ein weiterer Cochrane Review zu Interventionen zur Vermeidung bzw. Reduktion von FEM bei älteren Menschen, hier aber im Kontext von Krankenhäusern, erschien bereits im Jahr 2022. Die Ergebnisse von drei identifizierten Studien zu organisationsbezogenen Interventionen erlaubten jedoch keine eindeutigen Aussagen. Eine weitere Studie liefert Evidenz dafür, dass die Verwendung von Alarm‐Drucksensoren in Betten oder Stühlen bei Personen mit erhöhtem Sturzrisiko wahrscheinlich keinen Beitrag zur Reduktion von FEM leisten kann.PS