Der Abbau der Muskelkraft des Menschen im Alter ist nicht linear: Während bis zum Alter von 75 Jahren ein nur relativ langsamer Kraft- und Muskelabbau zu verzeichnen ist, kommt es in den Folgejahren zu einem sehr deutlichen Kraftabfall (1). Wird ein solcher Muskelverlust pathologisch und beeinträchtigt er zunehmend den Alltag der Betroffenen, spricht man von Sarkopenie. Zur Diagnose der Sarkopenie wird gemäss den meisten Leitlinien die Handschlusskraft gemessen. Für diesen pragmatischen Ansatz sind die per «Zangengriff» ermittelten Grenzwerte für einen pathologischen Befund entscheidend, nämlich bei Männern 27 kg und bei Frauen 16 kg (2). Aber auch über pneumatische Messungen oder einen Chair-Stand-Test messen Mediziner die (noch) verfügbare Muskelkraft. Derzeit werden über die Daten der Schweizer CH-DO-Health-Kohorte altersabhängige und damit präzisere Cut-off-Werte für den Handgriff definiert.
Krafttraining als Kraftquelle
Die Erklärungen für den aussergewöhnlichen Kraft- und Muskelverlust sind sehr vielfältig und stützen sich auf mitochondriale Dysfunktion, Verlust von motorischen Neuronen, oxidativen Stress, Apoptose, Inflammationen, Inaktivität oder ein Ungleichgewicht im Proteinmetabolismus (2). Derzeit werden viele Therapiestrategien und Substanzen (z. B. Testosteron, ACE-Hemmer [ACE: angiotensin-converting enzyme], Statine, Wachstumshormone, Östrogen, Vitamine, Nahrungsergänzungsmittel u. a.) getestet. «Aber das Hauptproblem bei all diesen Medikamenten ist, dass auch das Herz ein Muskel ist und es sehr schnell zu inakzeptablen Nebenwirkungen kommen kann», erklärte am SGR-Kongress in Interlaken Prof. Reto W. Kressig von der Universität Basel. Die besten Ergebnisse, um wieder zu mehr Kraft zu kommen, werden ohnehin nicht mit Medikamenten erzielt, sondern mit konventionellem Krafttraining, wie in einem Cochrane-Review mit 120 Studien aus dem Jahr 2009 gezeigt wurde (3). «Regelmässiges Krafttraining ist zwar ein Aufwand, aber es funktioniert», so der Altersmediziner. Ausserdem spielt die Ernährung eine sehr wichtige Rolle. So könne der Proteingehalt in der Nahrung einen massgeblichen Unterschied machen, sagte Kressig. Gemäss den Schweizer Ernährungsempfehlungen braucht es mindestens 1 bis 1,2 g Protein pro kg Körpergewicht für ältere Erwachsene (4). «Auf einen 75 kg schweren Mann umgerechnet, bedeutet das 450 g Fleisch pro Tag! Das macht etwas Angst, und an eine Umsetzung ist wahrscheinlich nicht zu denken.» Allerdings konnte in einer Studie gezeigt werden, dass 70- bis 79-Jährige bei Einhaltung einer solchen Hochproteindiät (1,2 g Protein/ kg/Tag) rund die Hälfte ihrer Muskelmasse weniger verloren als in der Vergleichsgruppe (5). Nicht Fleisch, sondern Milch, Käse, Eier, Tofu, Nüsse, Hülsenfrüchte und anderes sind die Hauptproteinquelle für eine solche Diät.
Training, Proteine und Vitamin D
Handelt es sich um einen krankhaften Muskelverlust, wird eine Kombination aus proteinreicher Ernährung und Krafttraining empfohlen. Unter den essenziellen Aminosäuren scheint Leucin im Zusammenhang mit Muskelaufbau eine besondere Rolle zu spielen: Je höher der Leucinspiegel, desto stärker die Muskelsynthese (6). In einer japanischen Studie wurden ältere Frauen in 3 Gruppen eingeteilt: in eine Gruppe mit leucinreicher Ernährung (ohne Training), in eine mit Krafttraining (2-mal/Woche, ohne Leucin) und in eine mit der Kombination aus beidem (7). Das Ergebnis: Während sich die Kraft bei leucinreicher Nahrung verdoppelte und bei Krafttraining um den Faktor 2,5 erhöhte, war bei einer Kombination aus leucinreicher Kost und Krafttraining ein fast 5-facher Kraftzuwachs zu verzeichnen. «Ich schwöre Ihnen: Jeder Patient merkt diesen Unterschied», sagte Kressig. Leucin in reiner Form ist sehr bitter, in bestimmten Nahrungsmitteln wie Hartkäse oder Erdnüssen ist diese Aminosäure jedoch reichlich vorhanden. Auch in einer überzeugenden 13-wöchigen Studie mit Bewohnern aus europäischen Alters- und Pflegeheimen konnte die muskelaufbauende Wirkung der Kombination aus Krafttraining, leucinreicher Kost plus Vitamin D bestätigt werden (8). Wie aus vielen Studien hervorgehe, wirke Vitamin D sowohl muskelaufbauend als auch sturzpräventiv, erklärte Kressig (9). So hat die Kombination von Leucin und Vitamin D die Muskelkraft signifikant erhöht – auch bei Bewohnern, die nicht mehr in der Lage waren, Sport zu treiben (8). «Schon wenn jemand wieder etwas besser aus dem Bett kommt, ist das eine Verbesserung der Lebensqualität», sagte der Basler Altersmediziner.
Joggen hilft gegen Entzündungen
Wie in vielen Studien nachgewiesen wurde, hilft Training nicht nur beim Kraftaufbau, sondern hat ebenfalls eine enzündungshemmende Wirkung, und zwar bei gesunden Menschen sowie bei Patienten mit entzündlichen Erkrankungen (10). Sportliche Betätigung führt dazu, dass im Köper weniger inflammatorische Marker respektive Zytokine wie Interleukin-(IL-)6, Tumornekrosefaktor-(TNF-)α, C-reaktives Protein (CRP) oder Serumamyloid A (SAA) zirkulieren und die Spiegel antientzündlicher Zytokine wie IL-1-Rezeptor-Agonist (IL-1RA), IL-4, IL-10 oder TGF-β (TGF: transforming growth factor) ansteigen. Dabei hängen die antiinflammatorischen Effekte von der Frequenz, der Intensität, dem Zeitpunkt und der Art des Trainings ab. In einem systematischen Review wurden verschiedene Sportarten bei übergewichtigen Personen untersucht (11). Es zeigte sich, dass bei Ausdauerübungen wie Joggen die proinflammatorischen Zytokine am stärksten gesenkt wurden, während Krafttraining die antiinflammatorischen Zytokine förderte. «Bei Patienten mit rheumatoiden Erkrankungen ist Sport quasi ein Therapeutikum», sagte Dr. Maxim Pellegrin vom CHUV in Lausanne. So wird durch Bewegung neben einer ganzen Reihe bekannter Nutzen das Entzündungsprofil verbessert. Tatsächlich reduzieren sich bei Patienten mit rheumatoider Arthritis als Antwort auf Bewegung Entzündungsmarker wie TNF-α und vermehren sich antiinflammatorische Zytokine wie IL-10 (12). Ähnliches wurde für Patienten mit Lupus festgestellt. Dabei scheint sich speziell in den Gelenken die Entzündungsaktivität durch regelmässiges Training zu reduzieren, wie in einer aktuellen Studie vermutet wird (13).
Langer IL-6-Anstieg beim Marathonlauf
Welche biologischen Mechanismen liegen der entzündungshemmenden Wirkung des Trainings zugrunde? «Die Antwort kommt vom Muskel selbst», sagte Pellegrin. Tatsächlich entlassen kontrahierende Muskeln Myokine (14). Diese hormonähnlichen Botenstoffe wirken lokal auf die Skelettmuskulatur, aber auch systemisch auf andere Organe, wobei IL-6 eine zentrale Rolle spielt. Dieses eigentlich proinflammatorische Zytokin wird in verschiedenen Immunzellen sowie in der quergestreiften Muskulatur synthetisiert. In diesem Zusammenhang wird IL-6 als «Myokin» bezeichnet. Es wirke sowohl auf den Muskel als auch systemisch, und zwar antiinflammatorisch, wie der Lausanner Wissenschaftler betonte. Gemäss einer Untersuchung nimmt der IL-6-Spiegel ab Beginn des Trainings exponentiell zu, um dann nach einigen Stunden wieder den Ruhewert zu erreichen. Diese Ausschläge sind abhängig von Trainingsintensität und Trainingsform. Marathonläufer zeigen dabei den stärksten und längsten IL-6-Anstieg. Andere antiinflammatorische Zytokine wie IL-10 oder IL-1RA folgen zeitlich versetzt ebenfalls mit Anstieg und Abfall.
Myopathien: CK-Wert nicht immer verlässlich
Eine Myositis ist eine Entzündung der Skelettmuskulatur. Die wichtigsten Formen der Muskelentzündung sind Polymyositis, Dermatomyositis, immunvermittelte nekrotisierende Myopathie und Einschlusskörperchenmyositis. Sie alle sind nicht durch Pathogene (Bakterien, Viren oder Parasiten) bedingt. Bei der Einschlusskörpermyositis ist ein ausgeprägter Muskelschwund zu beobachten, trotzdem sind die Patienten noch längere Zeit ohne funktionelle Einschränkung. Gerade umgekehrt ist es bei der Dermatomyositis, bei der «von aussen» nichts zu sehen ist, die Betroffenen jedoch trotzdem sehr schwach sind. Der Paradelaborwert für eine Rhabdomyolyse, also einen Gewebezerfall der quergestreiften Muskulatur, sei der Serumkreatinkinase-(CK-)Spiegel, erklärte Prof. Ulrich Walker vom Universitätsspital Basel. Zu beachten dabei ist jedoch, dass dieser CK-Wert nach sportlicher Betätigung (speziell nach exzentrischem Training wie Bergablaufen) stark erhöht sein kann und erst nach 10 Tagen wieder den Normalwert erreicht. Zudem sind die CK-Werte von Männern deutlich höher als die von Frauen und die von farbigen Menschen höher als die von Kaukasiern. Liegt der CK-Wert > 6 Prozent, gilt das als Hinweis auf eine Myokardbeteiligung. Allerdings kann es bei der Muskelregeneration durchaus zu höheren CK-MB-Werten (MB: muscle/brain) zwischen 6 und 7 Prozent respektive zu erhöhten Werten an Troponin T (nicht jedoch an Troponin I) kommen (15). Umgekehrt sind die CK-Werte (wie auch die Bildgebung) bei metabolischen Myopathien oft normal. Überhaupt sei eine moderate CK-Erhöhung noch nicht per se ein Beweis dafür, dass das Problem im Muskel liege, so Walker. Im Zweifel ist die Elektromyografie der diagnostische Standard, um eine Myopathie von einer Neuropathie zu unterscheiden. Das für ihn wertvollste diagnostische Hilfsmittel bei Verdacht auf Myositis, so Walker, sei jedoch die Ganzkörper-MRT-Untersuchung (MRT: Magnetresonanztomografie). Weiter geben Muskelbiopsien bei metabolischen Myopathien entscheidende Hinweise auf die Ursachen der Erkrankung. Sie sollten in einem spezialisierten Zentrum durchgeführt werden, da es dafür eines geübten Muskelpathologen und eines erfahrenen Teams zur Aufarbeitung der Proben bedarf. Bei Verdacht auf eine Mitochondriopathie sollten die dafür erforderlichen genetischen Untersuchungen mit Probematerial aus dem entsprechenden Muskel und nicht aus dem Blut vorgenommen werden.
Klaus Duffner
Quelle: Gemeinsamer Jahreskongress der Schweizerischen Gesellschaft für Rheumatologie (SGR) und von Reha Schweiz. Session Muskel, Metabolismus & Entzündung, 8. September 2022, Interlaken.
Referenzen:
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