Übergewicht, insbesondere starkes, steigert das Risiko für eine Reihe von schwerwiegenden Krankheiten wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes und Krebs. Das Gesundheitsproblem wächst: Weltweit nimmt die Zahl übergewichtiger Menschen zu, in Deutschland geht man davon aus, dass zwei von drei Männern (60 Prozent) und knapp die Hälfte der Frauen (45 Prozent) zu viele Kilos auf die Waage bringen.
Was aber bestimmt, ob Menschen übergewichtig werden? Klar ist: Neben dem Lebensstil spielt Veranlagung eine grosse Rolle. Bei eineiigen Zwillingen ähnelt sich der Body-Mass-Index (BMI) zu 40 bis 70 Prozent. Auch wenn sie nicht in der gleichen Familie aufwachsen, bleibt diese grosse Ähnlichkeit bestehen. Mittlerweile sind mehrere Genvarianten bekannt, die das Gewicht beeinflussen – und damit das Risiko, Adipositas zu entwickeln. Zusammengenommen können sie jedoch die beobachtete Erblichkeit nicht erklären. Forscher vermuteten deshalb, dass es zusätzliche, nicht genetische Faktoren geben muss, die sich auf den Hang zum Übergewicht auswirken.
Sättigungsgen wird nicht abgeändert, sondern formatiert
Einen solchen haben Forscher um Prof. Dr. Peter Kühnen, Direktor der Klinik für pädiatrische Endokrinologie der Charité, in ihrer aktuellen Studie nun identifiziert. Demnach steigt das Risiko für Fettleibigkeit bei Frauen um etwa 44 Prozent, wenn an dem für das Sättigungsgefühl verantwortlichen Gen POMC (Proopiomelanocortin) besonders viele Methylgruppen haften. Methylgruppen sind chemische Einheiten, mit denen der Körper die Buchstaben des DNA-Codes markiert, um Gene an- oder auszuschalten, ohne die DNA-Buchstabenfolge zu ändern. Ein Vergleich: Die Wirkung ähnelt der Hervorhebung eines Abschnitts in einem Text, ohne dass der Text umgeschrieben wird. Bezeichnet wird diese Art der DNA-Formatierung als epigenetische Markierung.
Methylierungseffekt vorwiegend bei Frauen
Für die Studie hatte das Forschungsteam die Formatierung des POMC-Gens bei mehr als 1100 Menschen analysiert. Bei adipösen Frauen mit einem BMI über 35 fanden sich mehr Methylgruppen an dem Sättigungsgen als bei normalgewichtigen Frauen. «Eine Erhöhung des Adipositas-Risikos um 44 Prozent entspricht etwa dem Effekt, den man auch bei einzelnen Genvarianten beobachtet hat», sagt Studienleiter Prof. Kühnen. «Im Vergleich wirken sich sozioökonomische Faktoren allerdings deutlich stärker aus, sie können das Risiko um das Zwei- bis Dreifache erhöhen. Warum der Effekt der Methylierung nur bei Frauen zum Tragen kommt, wissen wir noch nicht.»
Das POMC-Gen wird bereits sehr früh in der embryonalen Entwicklung formatiert, wie die Forscher durch einen Vergleich von Methylierungsmustern bei jeweils mehr als 30 eineiigen und zweieiigen Zwillingen nachwiesen. Während die Formatierung des Sättigungsgens bei eineiigen Zwillingen in den meisten Fällen übereinstimmte, korrelierte sie bei zweieiigen Zwillingen kaum. «Das deutet darauf hin, dass die epigenetische Markierung des POMC-Gens schon kurz nach dem Verschmelzen von Ei- und Samenzelle etabliert wird, noch bevor sich die befruchtete Eizelle in zwei Zwillingsembryonen aufteilt», erklärt Lara Lechner, Erstautorin der Studie von der Klinik für pädiatrische Endokrinologie. Die ganz frühe Phase einer Schwangerschaft ist also bereits entscheidend.
Was beeinflusst die Formatierung?
Doch was beeinflusst, wie stark das Sättigungsgen methyliert wird – und damit das Risiko für Übergewicht? Vergangene Studien hatten darauf hingedeutet, dass sich die An- oder Abwesenheit bestimmter Nährstoffe, die als Lieferanten für Methylgruppen dienen, möglicherweise auf epigenetische Prozesse auswirken könnten. Zu diesen Nährstoffen zählen beispielsweise Betain, Methionin oder Folsäure, die für gewöhnlich über die Nahrung aufgenommen werden. Eine neu entwickelte Methode erlaubte es den Charité-Wissenschaftlern nun erstmals, im Labor mithilfe von einzelnen menschlichen Stammzellen nachzuahmen, wie das Methylierungsmuster in der Embryonalentwicklung festgelegt wird und welchen Einfluss Nährstoffe darauf haben.
«Unsere und auch andere Studien zeigen einerseits, dass Folsäure, Betain und andere Nährstoffe sich in begrenztem Masse auf den Umfang der Methylierung auswirken», sagt Prof. Kühnen. «Wir haben dabei beobachtet, dass das DNA-Formatierungssystem insgesamt recht stabil ist und kleinere Schwankungen im Nährstoffangebot von den Zellen kompensiert werden. Auf der anderen Seite gibt es Hinweise, dass sich die Variabilität dieser Formatierung zufällig entwickelt. Das bedeutet, dass man zumindest aktuell noch nicht von aussen beeinflussen kann, ob eine Person mehr oder weniger Methylierung in der POMC-Region aufweist.»
Medikamentöse Hilfe potenziell möglich
Zumindest theoretisch könnte man Frauen, die aufgrund einer Methylierung des POMC-Gens ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung von Fettleibigkeit haben, medikamentös beim Abnehmen unterstützen. Darauf deuten erste Ergebnisse an vier hochadipösen Frauen und einem Mann mit eben dieser Formatierung des Sättigungsgens hin. Sie erhielten einen spezifischen Wirkstoff, der in die Entstehung des Hungergefühls eingreift und für die Adipositas-Behandlung von Menschen mit einem mutierten, also fehlerhaften POMC-Gen zugelassen ist. Innerhalb von drei Monaten nach Start der Behandlung empfanden die fünf Patienten weniger Hunger und verloren im Schnitt sieben Kilogramm, also rund fünf Prozent ihres Körpergewichts. Einige von ihnen setzten die Behandlung länger fort und nahmen weiter ab.
«Diese Ergebnisse zeigen zunächst einmal, dass sich ein epigenetisch verändertes POMC-Gen überhaupt potenziell medikamentös adressieren lässt», sagt Prof. Kühnen. «Weitere grosse kontrollierte Studien müssen zeigen, ob und wie wirksam und sicher die Behandlung mit dem Wirkstoff auch über einen längeren Zeitraum wäre. Insgesamt könnte ein solches Medikament jedoch nur Teil einer umfassenden Behandlungsstrategie sein.»PS