Akut querschnittgelähmte Patienten sind besonders anfällig für Infektionen, etwa für Atem- oder Harnwegsinfekte. Die genaue Ursache dafür war lange Zeit unklar. Komplikationen dieser Art sind im schlimmsten Fall tödlich oder aber sie beeinträchtigen die Regeneration. Ob das Immunsystem direkt betroffen ist und bei einer Verletzung des Rückenmarks Schaden nimmt, dieser Frage ist ein internationales Forschungsteam nun systematisch nachgegangen.
«Wir wollten wissen, ob die Immunschwäche nach einer Rückenmarkverletzung von der Schwere und Höhe der Schädigung abhängt, ähnlich wie es bei einer Lähmung der Muskulatur der Fall ist», sagt Dr. Marcel Kopp, Wissenschaftler im Bereich Experimentelle Neurologie der Charité.
Das grösste Risiko für Menschen, die eine akute Querschnittlähmung erlitten haben, sind in den ersten Wochen erworbene Infektionen mit nachfolgender Sepsis. Sie zu verhindern, ist ein wesentliches Ziel. Denn Infektionen stellen nicht nur ein Risiko für das Überleben der Patienten dar, sie behindern auch eine bestmögliche Erholung neurologischer und motorischer Funktionen. Lokal ansetzende Therapien oder neue präventive und immunwirksame Behandlungen könnten die Ergebnisse einer Rehabilitation verbessern.
Biomarker verweisen auf Infektionsrisiko
Die Forscher gehen davon aus, dass es infolge der schweren Verletzung zu einer gestörten Kommunikation zwischen dem Gehirn und Teilen des autonomen Nervensystems im Rückenmark kommt. Die ausbleibende Koordination von Nerven- und Immunsystem mündet schliesslich in einer systemischen Immunschwäche. Marker im Blut, die mit einem solchen Defizit einhergehen, sollen dabei helfen, die Infektionsanfälligkeit von Patienten frühzeitig individuell abzuschätzen und zu behandeln. Welche Blutveränderungen sind also spezifisch für eine akute Rückenmarkverletzung? Und sind diese Veränderungen abhängig von der Lage und Schwere der Verletzung?
«Um dies festzustellen, haben wir im Blut von akut querschnittgelähmten Patienten die Menge eines spezifischen Zelloberflächenmoleküls auf den Monozyten untersucht. Das Molekül mHLA-DR ist ein bewährter Biomarker zum Abschätzen der Immunkompetenz bei intensivmedizinischen Patienten», erklärt Dr. Kopp. Die Ergebnisse aus Gruppen von Betroffenen mit jeweils unterschiedlichen Verletzungen des Rückenmarks wurden anschliessend mit Ergebnissen von Patienten verglichen, bei denen lediglich eine Verletzung der Wirbelkörper vorlag, bei noch intaktem Rückenmark. «Für schwerwiegende Rückenmarkverletzungen konnten wir nachweisen, dass eine reduzierte Anzahl von HLA-DR-Molekülen pro Monozyt zu einer Deaktivierung dieser Immunzellen führt. Da die Vorläufer der Fresszellen eine wichtige Komponente der Immunabwehr sind, lässt sich anhand dieses Markers die Anfälligkeit für schwere Infektionen und Sepsis bei kritisch kranken Menschen vorhersagen», so der Wissenschaftler.
Je höher und schwerer die Verletzung, umso ausgeprägter die Immunschwäche
- Wie die aktuelle Studie zeigt, ist das Spinal Cord Injury-induced Immune Deficiency Syndrome (SCI-IDS) bei Patienten mit schweren, neurologisch vollständigen Rückenmarkverletzungen oberhalb der Brustwirbelsäule am stärksten ausgeprägt.
- Das zeigt sich besonders deutlich im Vergleich mit Patienten, die nur eine leichtere Verletzung im Bereich der unteren Brust- oder Lendenwirbelsäule erlitten hatten.
- Insgesamt sind Rückmarkverletzte deutlich stärker betroffen als Patienten mit einer reinen Wirbelsäulenverletzung ohne Beteiligung des Rückenmarks.
«Die Rückenmarkverletzung an sich, die Verletzungshöhe und die Schwere der Läsion sind entscheidende Faktoren beim Entstehen der sogenannten neurogen-vermittelten Immunschwäche», schliesst Prof. Jan Schwab, Leiter der multizentrischen Studie mit insgesamt etwas mehr als einhundert akut Verletzten.
Besonders hoch ist das Risiko für beispielsweise eine lebensbedrohliche Lungenentzündung bei Patienten mit stark ausgeprägter Immunschwäche. Auch kann neben der zellulären Immunabwehr das Immungedächtnis mitbetroffen sein. Beobachtet wurde dies vor allem bei Rückenmarkverletzten mit schweren und hoch liegenden Schäden. Prof. Schwab kommt zu dem Schluss: «Erworbene Infektionen sind bei Querschnittlähmung eine schwerwiegende Komplikation. Ein möglichst frühes Erkennen besonders gefährdeter Patienten ist daher wesentlich, um das Überleben und die Selbstständigkeit im späteren Alltag dieser Menschen zu verbessern.» Die nun folgenden Untersuchungen müssen zeigen, ob eine Behandlung der Immunschwäche tatsächlich zu besseren Ergebnissen bei dieser vulnerablen Patientengruppe führt.PS